Im Newsletter für den Nachwuchs der Rechtspsychologie vom Juni hatte die Redaktion ausgeschrieben, dass sie zwei Tagungsstipendien für eine Tagung der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) zum Thema „Sexuelle Gewalt als Herausforderung für Gesellschaft und Recht“ (27.-28.10. in Wiesbaden) vergibt. Sophia Krügel (RP-Studierende des Jahrgangs 2016 an der PHB) hat sich beworben und eins der beiden Stipendien erhalten. Zusammen mit ihrer Mitstipendiatin Verena Oberlader (Uni Bonn) hat sie einen Bericht über die Tagung verfasst, der ausführlich die aktuelle Diskussion um die Reform des Sexualstrafrechts aufgreift.
„Sexuelle Gewalt als Herausforderung für Gesellschaft und Recht“ – Ein Bericht von Sophia Krügel und Verena Oberlader zur Fachtagung der Kriminologischen Zentrale
Unter dem Motto „Sexuelle Gewalt als Herausforderung für Gesellschaft und Recht“ tagte die Kriminologische Zentrale am 27. und 28. Oktober 2016 in Wiesbaden. Im Fokus der Tagung stand das reformierte Sexualstrafrecht, das als „Nein-heißt-Nein“-Lösung in diesem Jahr bereits für viel Diskussion sorgte.
Zum Einstieg stellten Susanne Bunke und Dr. Garonne Bezjak vom Bundesministerium für Justiz- und Verbraucherschutz die Reformen des Sexualstrafrechts vor. Das Herzstück bildet der sogenannte erkennbare Wille einer Person. Wer gegen diesen Willen sexuelle Handlungen an einer Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt (…) wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft (§ 177, Absatz 1, StGB). Der Tatbestand eines sexuellen Übergriffes, einer sexuellen Nötigung und einer Vergewaltigung ist damit nicht mehr an die Anwendung von Gewalt, Drohungen oder das Ausnutzen einer schutzlosen Lage gekoppelt. Die Vertreterinnen des Bundesministeriums für Justiz- und Verbraucherschutz betonten, dass mit Hilfe dieser Änderung Strafbarkeitslücken geschlossen werden konnten. Ihrer Einschätzung nach wurden Personen, an denen sexuelle Handlungen ohne Nötigung vorgenommen wurden, da sich diese aus Angst vor weiteren Konsequenzen nicht zu Wehr setzten, bislang nicht vom Staat geschützt. Auch sexuelle Handlungen, die in einem Überraschungsmoment vorgenommen wurden, zum Beispiel in der Kölner Silvesternacht, hätten bislang nicht strafrechtlich geahndet werden können. Das Auftun der Gesetzeslücken hätte eine schnelle Reaktion erfordert, sodass die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe, die mit der Reform des Sexualstrafrechts beauftragt wurde, nicht hätten abgewartet werden können.
Auch Prof. Dr. Tatjana Hörnle von der Humboldt-Universität zu Berlin vertrat die Ansicht, dass die Voraussetzung der Nötigung zur Tatbestandserfüllung vor der Reform nicht zum modernen Recht auf sexuelle Selbstbestimmung passe. Das Sexualstrafrecht stamme aus dem 19. Jahrhundert und sei in seinen Grundzügen nicht darauf ausgelegt gewesen, sexuelle Selbstbestimmung im Sinne einer Willensäußerung zu ermöglichen. Es habe in der damaligen Zeit vielmehr zum Ziel gehabt, die Jungfräulichkeit der Frau zu schützen. Wer also vormals eine Frau zu einer sexuellen Handlung nötigte, wurde strafrechtlich belangt, da er sie entjungferte und nicht, da dies gegen ihren Willen geschah. Mit dem reformierten Gesetz werde nun der Wille und nicht die Notlage einer Person berücksichtigt. Der Staat mute dem Opfer weniger Selbstschutz zu und schaffe, so die Hoffnung von Prof. Dr. Tatjana Hörnle, auch entsprechende Verhaltensnormen.
Prof. Dr. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, warnte davor, voreilig von Opfern zu sprechen. Mit der Reform des Sexualstrafrechts heble das bloße Wollen bzw. Nichtwollen den Vorsatz aus, sodass die sexuelle Handlung selbst zur Nötigung werde. Hierzu wählt er folgende Analogie: Eine Person wird gebeten das Fenster zu öffnen, hat hierzu zwar keine Lust, tut es aber trotzdem. Das Fensteröffnen, das gegen den Willen jedoch ohne Nötigung geschah, sei dann „Straftatbestand“. Im Rahmen seines Vortrages kritisierte Prof. Dr. Thomas Fischer weiterhin einzelne Definitionen (z.B. eingeschränkte Fähigkeit zur Willensbildung) und Absätze des Sexualstrafrechts (z.B. Freiheitsstrafe von nicht unter fünf Jahren beim Mitführen eines gefährlichen Werkzeuges) und machte deutlich, dass die populistische Grundlage der Reform seiner Meinung nach einen Tiefpunkt der Gesetzestechnik darstelle. Die Gesetzesreform führe dazu, dass „Intimität mit dem Millimeterpapier des Strafrechts“ vermessen würde.
Zum Abschluss des ersten Tages ordnete Prof. Dr. Daniela Klimke von der Polizeiakademie Niedersachsen die Reform des Sexualstrafrechtes unter gesamtgesellschaftlicher Perspektive ein. Mit dem zunehmenden Fokus auf Individualität, Authentizität, Reflexion, Pluralität, Flexibilität und Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft gehe auch eine erhöhte Vulnerabilität und Opferakzeptanz einher. Wo früher Normen das Sexualstrafrecht beeinflussten (z.B. Homosexualität als Straftatbestand), ist es heute die Verletzung konkreter Opfer. Hierzu passe die Entwicklung, dass zum Schutze des Opfers der Staat gar nicht mächtig genug sein könne.
Ob das reformierte Sexualstrafrecht, das im Bundestag einstimmig verabschiedet wurde nun eine Sternstunde der Demokratie oder einen Schnellschuss unter dem Druck der Öffentlichkeit verkörpert, wurde im Anschluss des Vortrages kontrovers und intensiv diskutiert. Dabei war man sich unter anderem darüber uneins, ob die Vorfälle der Kölner Silvesternacht mit dem bisherigen Strafrecht hätten erfasst werden können und ob Viktimisierung als gesellschaftlicher Trend mit dem Strafrecht beantwortet werden sollte. Aus Sicht der Rechtspraxis wurde darüber spekuliert, ob auf Grundlage des neuen Gesetzes die Zahl der Falschbezichtigungen zunehmen und die Beweisführung schwieriger werden wird.
Am zweiten Tag der spannenden Tagung wurden die juristischen Gefilde verlassen und die Vorträge standen unter der Schirmherrschaft anderer Fachdisziplinen. Zu Beginn kam der Pädagoge Herr Prof. Dr. Ahmet Toprak von der Fachhochschule Dortmund zu Wort, der Daten und Fakten zu in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund präsentierte. Im Mittelpunkt seines Vortrags standen vier verschiedene Familientypen, die er im Rahmen einer qualitativen Studie identifizieren konnte. Diese unterscheiden sich in konservativen, religiösen und leistungsorientierten Charakteristiken. Anders als der Titel des Vortrags versprach („Der fremde Täter“) blieb der Zusammenhang zwischen Familientypen und Sexualstraftaten jedoch unklar.
Dr. Philipp Süssenbach von der Philipps-Universität Marburg stellte spannende Befunde über Vergewaltigungsmythen dar und welche Auswirkungen gesellschaftliche Stereotypen auf sexuelle Gewalt haben. Er zeigte eindrucksvoll, welche Funktionen Stereotypen über Vergewaltigungen erfüllen (z.B. Neutralisierung als Rationalisierung des eigenen sexuell grenzverletzenden Verhaltens) und wie sich Vergewaltigungsmythen überhaupt operationalisieren lassen. Im Rahmen der Studien erhob er nicht nur getrennt für Frauen und Männer die Neigung an Vergewaltigungsmythen zu glauben, sondern untersuchte auch, welche Auswirkungen Vergewaltigungsmythen auf das juristische Urteil in Vergewaltigungsfällen haben. Zum Ende seines Vortrags gab Dr. Philipp Süssenbach einen anregenden Ausblick auf zukünftige Forschungsvorhaben.
Jutta Elz von der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden klärte die Kongressteilnehmer im Anschluss über Verurteilungsgründe und Einstellungsgründe auf. Anhand eines Zitates des Justizministers Heiko Maas veranschaulichte Frau Elz anschaulich, wie schnell man vermeintlich eindrucksvollen Zahlen aufsetzt, wenn man nicht ganz genau hinschaut, was die Statistik erfasst. Sie plädiert für eine sogenannte Verlaufsstatistik, die Fälle über den Tatverdacht, die Anklage und die Verurteilung hinweg erfasst.
Zum Abschluss widmete sich Herr Prof. Dr. Wolfgang Retz von der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz der Frage, warum und wie Gewalt aus einem forensisch psychiatrischen Blickwinkel entsteht. Dabei wurden unter anderem neurobiologische und psychosoziale Faktoren als Auslöser sexueller Gewalt betrachtet. Er diskutierte außerdem die Rolle der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung als möglichen Risikofaktor für sexuelle Gewalt.
Der Leiter der Kriminologischen Zentralstelle Dr. Martin Rettenberger rundete die Tagung mit abschließenden und motivierenden Worten ab. Eine vielseitige Fachtagung mit spannenden und lehrreichen Inhalten fand ihren Abschluss und wir sind dankbar, dass wir ein Teil davon sein durften.
Verena Oberlader und Sophia Krügel